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Wohin mit 14 Millionen Heimatvertriebenen?

  • Donauschwaben
  • vor 2 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 1 Tag

Ein Blick zurück auf die Jahre nach 1945 – ein Zeitzeuge berichtet


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Heller-Baracke 5 in Markt-Schwaben, viele Jahre die Unterkunft der Großeltern von Willi Beck (links); Eltern mit dem kleinen Willi


Bereits vergangenes Jahr gedachten die Donauschwaben zum 80. Mal der Flucht und Vertreibung aus ihren Heimatregionen in Südosteuropa. Schon im Herbst 1944 waren dort viele Familien gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die Erfahrungen von Heimatverlust, Entwurzelung und Neubeginn prägen bis heute zahlreiche Biografien. Auch Willi Beck kann über die Folgen dieser Zeit aus unmittelbarer familiärer Perspektive berichten: Er wurde 1946 in der Markt Schwabener Flüchtlingsbaracke als Sohn vertriebener Donauschwaben geboren. Seine Kindheitserinnerungen zeigen anschaulich, unter welchen Bedingungen die Vertriebenen nach dem Krieg lebten und wie diese Vergangenheit den Alltag prägte.


Hinter den historischen Zahlen stehen Menschen und individuelle Schicksale. Rund 14 Millionen Deutsche waren von 1944 bis 1950 von Flucht und Vertreibung betroffen; 1946 zählten die Alliierten bereits 9,6 Millionen Heimatvertriebene. Deutschland sah sich einer enormen Herausforderung gegenüber: Bereits 1945 lebten allein in Bayern über 700.000 Flüchtlinge, bis 1950 kamen fast 1,9 Millionen Vertriebene hinzu und stellten dort ein Viertel der Bevölkerung. Sie trafen auf ein Land in Trümmern – zerstörten Wohnraum, knappe Ressourcen und Gemeinden, deren Bevölkerungszahl sich vielerorts über Nacht verdoppelte.


Um überhaupt ein Dach über die Köpfe der Flüchtlinge zu schaffen, wurden Holzbaracken, Nissenhütten oder ehemalige Kasernen und Fabrikhallen genutzt. Manchmal griff man sogar auf Orte zurück, deren Geschichte schwer auf den neuen Bewohnern lastete: So diente das ehemalige Konzentrationslager Dachau als Durchgangslager für Flüchtlinge und Vertriebene – ein bedrückendes Beispiel dafür, dass es für die Versorgung der Menschen oft keine Alternative gab. Im Oktober 1946 existierten allein in Bayern bereits 1.381 Lager.


Wie sich diese Entwicklungen vor Ort auswirkten, zeigt der Bericht von Willi Beck, der in den Markt Schwabener Baracken aufwuchs und seine Kindheitserfahrungen im Kulturzentrum Haus der Donauschwaben Bayern vor einem interessierten Publikum schilderte. 1947 standen in Markt Schwaben 2.612 Einheimischen 1.808 Flüchtlinge und Vertriebene gegenüber. Am Fischergries entstand ein Lager, das über viele Jahre zum Lebensmittelpunkt hunderter Menschen wurde. Die Baracken hatten die Nationalsozialisten im Spätsommer 1944 für Verlagerungen ausgebombter Rüstungs- und kriegswichtiger Betriebe aus München sowie für die Einquartierung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern errichtet.


Nach Kriegsende wurden die Vertriebenen dort einquartiert; zeitweise lebten in den sechs großen so genannten Heller-Baracken 463 Personen – unter äußerst prekären Bedingungen. Die Holzbaracken waren nicht isoliert, hellhörig und vielfach verfault. In den Wänden wimmelte es von Wanzen, und das Glas in den Fenstern fehlte oft vollständig. Familien erhielten kaum mehr als 20 Quadratmeter, getrennt nur durch Papier, Decken oder Karton. Heizmaterial war knapp, Öfen und Ofenrohre schadhaft, und der Jahrhundertwinter 1945/46 mit Temperaturen bis minus 26 Grad setzte den Menschen besonders zu. Das Brauchwasser musste mit Kübeln hinausgetragen werden, und eine einzige Waschküche wurde von vielen Familien geteilt. Die psychische Belastung durch Enge, fehlenden Rückzugsraum und ungewisse Zukunft war groß – besonders für die Erwachsenen, die die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat tief in sich trugen.


Willi Beck, dessen Familie als vertriebene Donauschwaben nach Markt Schwaben kam, verbrachte mehrere Jahre seiner Kindheit in diesen Baracken. Seine Großeltern lebten dort sogar jahrzehntelang. Trotz der widrigen Lebensumstände erzählt er in seinem Vortrag „Als die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge nach Bayern kamen – Erinnerungen an meine Nachkriegskindheit in den Markt Schwabener Baracken“ von Momenten des Zusammenhalts, der Improvisation und des kindlichen Staunens. Seine Erzählungen berührten das Publikum tief: Er berichtete von bitterer Armut und den Wanzen, die von amerikanischen Soldaten mit Insektiziden bekämpft und abends mit Besen zusammengekehrt wurden. Gleichzeitig erinnerte er sich an Familien, die trotz Kälte, Hunger und Mangel an Kleidung das Beste aus ihrer Lage machten. Beck war ein kluger Junge, den seine Eltern als einziges Kind nach Kräften unterstützten. Er wurde schulisch gefördert, schlug später den Lehrerberuf ein und wurde schließlich Schulleiter der Markt Schwabener Hauptschule.


Seine Erinnerungen zeugen nicht nur von Entbehrungen. Mit spürbarer Freude trug er Anekdoten, Gedichte, heitere Mundart-Einlagen und donauschwäbische Weisheiten vor. Besonders die Vielfalt der Dialekte, die im Lager aufeinandertrafen, prägte ihn nachhaltig – ein sprachlicher Schatz, den er bis heute pflegt. So war der Abend in Haar nicht nur bewegend, sondern auch lebendig und unterhaltsam. Der voll besetzte Saal und der langanhaltende Applaus zeigten, wie sehr seine Erzählungen die Zuhörer berührten.



Veranstaltung mit Willi Beck am 5. November im Haus der Donauschaben in Haar


Die Unterbringung der Millionen Heimatvertriebenen nach 1945 war eines der größten sozialen Projekte der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Geschichten von Menschen wie Willi Beck erinnern daran, dass hinter jeder Zahl ein Leben steht – geprägt von Verlust, Hoffnung und dem Wunsch nach einem Neubeginn.


Auch Michaela Richthammer kann von einer solchen Geschichte erzählen. Als Besucherin kam sie ins Haus der Donauschwaben in Haar und brachte alte Fotografien ihrer Familie mit, die nach der Flucht im Lager am Hohen Kreuz bei Regensburg untergebracht war. Es ist eine Geschichte des Neuanfangs unter widrigen Umständen: Frau Richthammers Großmutter Anna Weinmüller (geb. Becker) heiratete am 23. September 1950 im Barackenlager Georg, der ebenfalls aus ihrem Heimatort Gajdobra stammte. Georg war erst im Januar 1950 aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Eine der Fotografien zeigt das Hochzeitspaar vor der Holzbaracke – Anna in einem eleganten Hochzeitskleid, das sie sich von ihrem ersten Lohn bei Siemens (sie arbeitete in der Automobilzulieferung) gekauft hatte. Auf einem anderen Bild ist die Hochzeitsgesellschaft mit den Familien Becker, Flock, Weinmüller, Kleiner, Sabbos sowie weiteren Verwandten und Freunden in einem hergerichteten Festraum zu sehen.


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Hochzeit von Anna und Georg Weinmüller am 23. September 1950 im Barackenlager am Hohen Kreuz bei Regensburg, Foto privat, © Michaela Richthammer



Hochzeitsgesellschaft im Barackenlager, Foto privat, © Michaela Richthammer


Auch diese persönlichen Fotografien vermitteln wertvolle Einblicke in das Leben der Vertriebenen in der herausfordernden Zeit des Neuanfangs: Man gründete neue Familien, tat sich zusammen und versuchte, mit Zuversicht, Kraft und Fleiß eine neue Heimat aufzubauen – auch unter schwierigen Wohnbedingungen.


Von Gabriele Schilcher




Willi Beck erzählt von seiner Kindheit im Barackenlager Markt-Schwaben

 
 
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